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Konsumentenverhalten mit neuen Paradigmen

Wie Handels- und Logistikmanager die Zeichen der Zeit erkennen

„Handel ist Wandel: Basar, Kaufhaus, Online-Shop – und was kommt dann?“ Diese und weitere Szenarien beleuchtete Prof. Dr. Steffen Bouchard in seinem kurzweiligen Vortrag beim jüngsten LogistikPlan Forum in Dresden. Der Handels-Fachmann gab unserer Redaktion ein Interview.

Prof. Bouchard beim Vortrag zum LogistikPlan Forum 2019

Herr Prof. Bouchard, während Ihres beruflichen Werdegangs sammelten Sie profunde Erfahrungen im großflächigen Einzelhandel, unter anderem als Markt- und Regionalleiter. Später folgten Stationen als Unternehmensberater und schließlich seit 2015 eine Professur für Marketing, Handel und Entrepreneurship an der SRH Fernhochschule – The Mobile University. Welchen Stellenwert besitzt aus Ihrer Sicht heute die Handelslogistik im Filialmanagement?

Hier kann und sollte man differenzieren, weil mehrere Sichtweisen bestehen: Das Filialmanagement muss klar und kompromisslos kundenfokussiert arbeiten. Kunden mit ihren regionalen Erwartungshaltungen definieren zunächst einmal immer die Grundanforderungen am Point of Sales. Die Filialmanager müssen mit den Standorten erfolgreich Geld verdienen und benötigen dafür professionelle Prozesspartner. Um Skaleneffekte zu generieren, setzen die Handelszentralen wiederum auf ein insgesamt einwandfrei funktionierendes Logistiknetzwerk. Gute Handelslogistik ist demnach immer ein Musterbeispiel für so ein hochprofessionelles Zusammenspiel bei gegenseitigem Verständnis. Denn Waren sind grundsätzlich beim Hersteller verfügbar, während sich Logistikkapazitäten manchmal als Nadelöhr entpuppen, vor allem die Feinsteuerung der Anlieferung und die unmittelbare Bestückung auf der Fläche. Die Logistik bildet eine Basis bzw. Brückenfunktion für den Handel: Sie besteht darin, eine räumliche, zeitliche, organisatorische und informative Verbindung vom Hersteller bis hin zum Verbraucher zu schaffen.

Denkt ein typischer Einzelhändler beziehungsweise ein Handelsunternehmen in Deutschland mehr über das Management seiner Filiale(n) nach als über die Lieferkette?

Typische „Einzelhändler der alten Schule“ werden seltener. Globalisierte und national agierende Handelskonzerne dominieren immer mehr den Markt. Je stärker diese zentralisiert sind, desto weiter ist nicht nur ihre räumliche Entfernung, sondern oftmals auch die Distanz in der Denkweise zur einzelnen Filiale: Es gibt hier eine gewisse Kundenentfernung. Filialleiter vor Ort sind in erste Linie für eine gute, professionell funktionierende Filiale verantwortlich. Die Lieferkette spielt für die Filialleiter am Standort kaum noch eine Rolle. Sie stützten sich auf die von der Zentrale organisierte Prozessketten und Marketingkanäle. Deshalb muss man Verständnis dafür haben, dass Filialleiter – bei aller Kundenorientierung – auch immer sehr systemgeprägt agieren müssen. Logistikunternehmen werden bei den Einzelhändlern vor Ort immer mehr als die wichtigen Schlüsselpartner für die Anlieferung und Auslieferung betrachtet. In einem Bau- und Gartenmarkt zum Beispiel gibt es eine standardisierte Zentrallagerlogistik, die bis zur Anlieferung in die Filiale funktioniert. Möchte ein Käufer einen großen Artikel, beispielsweise einen Kaminofen, nach Hause geliefert bekommen, sind zudem auch zuverlässige regionale Logistikpartner notwendig. Mitunter wird Logistik noch als reines Liefern betrachtet. Doch der Trend geht immer mehr zum Full-Service. Vernetzte Schlüsselaktivitäten von modernen Logistikern könnten so aussehen: Dispositionsservice, Anliefern, Warenverräumung, Entsorgung, Anlieferung beim Kunden, Rücknahme von Verpackungen und eventuell sogar das Nachsteuern von Ersatzteilen.

Ist Full-Service die Logistik-Sichtweise der Zukunft?

Auf jeden Fall. Eine gut funktionierende und professionell geführte Filiale vor Ort ist für einen Händler etwas Tolles. Bei einem prozessorientierten und strukturgetriebenen Filial-Unternehmen, findet man kaum Leerstand im Regal. Solche Firmen sind in aller Regel mit exzellenter Feinlogistik ausgestattet, oftmals deutlich besser als bei anderen vergleichbaren Anbietern. Das ist natürlich auch im Sinne der Endkunden. Eine strenge und sehr disziplinierte Standortbewirtschaftung wirkt vielleicht etwas altmodisch – ich finde sie aus Kundensicht ausgesprochen wichtig und sehr gut. Benchmark könnten hier einige große deutsche Drogerieketten sein, welche ihr Geschäft perfekt beherrschen.

Ein weiterer Trend geht zur sogenannten Multi-Channel-Logistik. Werden solche Veränderungen stärker vom Kunden oder vom Händler getrieben?

Der Handel ist ganz extrem vom Markt und damit vom Kunden getrieben. Wenn Kunden etwas nachfragen, dann wird es beschafft. Die Frage lautet dann nur noch wo, wie und zu welchen Konditionen. Aber es braucht für dieses Multi-Channel-Marketing eine technische und logistische Basis: Es geht um gut durchgehende Lieferketten aus dem asiatischen Raum bis hinein in große, mittelgroße und kleine deutsche Städte und Gemeinden. Der Kunde verlangt extrem viel, weil er sich viel leisten kann – und diese Erwartungshaltung wächst weiter. Aus ethischer Sicht dürfte es uns manchmal gut tun, wenn wir nicht alles so schnell und so billig bekommen würden. Regionale Anbieter sind momentan noch im Nachteil, für große Filialketten ist es zur Zeit leichter, Ware aus Zentrallagern oder Logistikzentren zu liefern, als den vermeintlichen „Kleinkram“ aus der Region anzubieten. Doch wir werden es sicher immer mehr erleben, dass die Konsumenten im Zusammenhang mit dem Verbrauchervertrauen wieder mehr auf die regionale Komponente setzen wollen. Übrigens: Die hochprofessionelle Einbindung kleinerer Lieferanten und Anbieter aus der jeweiligen Region könnte ein Geheimtipp für Handelsketten werden – hier gibt es derzeit vor allem in genossenschaftlich basierten und filialtypisch strukturierten Geschäftsmodellen des Lebensmittel-Einzelhandels gute Beispiele. Werden diese Ansätze konsequent weiter verfolgt, dann stärken gute regionale Lieferanten die Alleinstellung des Händlers nicht nur im Sinne des klassischen USP, sondern auch mit Ausblick auf ESP und SSP, das heißt die sogenannte emotional oder social selling proposition.

Wie verändert sich unser Kaufverhalten?

Das möchte ich kritisch diskutieren und von einer – in Teilen der westeuropäischen Gesellschaft – unverschämten Inflation der Erwartungshaltungen sprechen! Zunehmend versuchen wir als Handelsprofis, diese Erwartungshaltungen zu befriedigen und unterwerfen uns ihrem Diktat. Es ist allerdings schon fast unanständig, welche hohen Erwartungshaltungen existieren. In der Tat gibt es den sogenannten Käufermarkt. Darin haben Kunden vermeintlich die Macht. Ihnen steht jedoch – zumindest im Foodbereich – eine enorme Konzentration von Verkäufern gegenüber. Da aber zahlreiche Produkte und Dienstleistungen vergleichbar sind, meinen manche Anbieter, sich beispielsweise durch extrem schnelle Lieferungen oder großzügigste Rücknahmeregelungen profilieren zu müssen. Damit glauben sie, ihre eigentlichen Leistungen zu individualisieren und zu professionalisieren. Hier lauert eine unterschätzte Gefahr: ins Groteske gesteigerte Kundenzufriedenheit ist nämlich nach kurzer „Gewöhnungszeit“ die Basis für zusätzliche neue Erwartungshaltungen, aus denen dann auch wieder noch höhere Erwartungshaltungen resultieren. Es darf eigentlich keine Lösung sein, dass man jede Kundenkommissionen stets kostenlos zurücknimmt oder den Kunden, die zunehmend gut informiert sind, bei jeder Preisdiskussion bedingungslos entgegen zu kommen.

Ein kritischer Punkt in der Prozesskette ist das Retouren-Management: Von drei bestellten Produkten werden oftmals zwei wieder zurückgeschickt. Sind hier Verbesserungen und praktikablere Lösungen absehbar?

Dazu müsste man in die Sterne schauen. Bei einem veränderten Konsumentenbewusstsein sollte sich einiges tun. Im Grunde zahlen wir alle diese Nebenkosten mit. Wenn man sich Billigstanbieter im Textilbereich anschaut – da hängen manchmal billigste Produkte und zweifelhafte Qualitäten auf dem Bügel, bei denen Kunden denken: Wasche ich das Teil nach dem Tragen oder werfe ich es weg? Finanziell mag das für uns Deutsche noch möglich sein, ethisch ist es nicht mehr vertretbar. Auch antrainierter unehrlicher Umgang mit Handelspartnern – das getragene T-Shirt zurückschicken – lässt sich so einfach nicht mehr vermeiden. Äußerst kulante Rücknahmeregelungen zeigen hässliche Schattenseiten. Wirtschaftlich gesehen eine große Gefahr für Händler: Wer glaubt, dass er sich mit enormen Zugeständnissen, Rabatten und Sonderaktionen im Preiskampf profilieren kann, wird es auf lange Sicht ganz schwer haben. „20 Prozent auf alles. Außer Tiernahrung“ (Praktiker vor der Pleite) lässt grüßen. Handelsmanager sollten aufhören, mit unwichtigen Dingen von den Kernkompetenzen der Branche abzulenken und andere Branchen mit herunterzureißen. Viele Kunden möchten richtig beraten werden. Ein guter Verkäufer sorgt dafür, dass der Kunde genau die Ware bekommt, die er braucht. Die professionellsten Verkäufer sind solche, die fast keine Retouren mehr verantworten müssen: Sie bieten von vornherein die beste Ware und zielführende Beratung an.

Was raten Sie Logistikern, um sich für künftige Herausforderungen im Handel zu wappnen?

Die Branche ist zu groß und zu komplex, um das in wenigen Sätzen zu beantworten. Deshalb nur einige Stichpunkte. Viele Logistikunternehmen denken zunehmend strategisch – sie interessieren sich für Megatrends und bilden Geschäftsmodelle neu ab. Künftig dürften Full-Service-Partner verstärkt gefragt sein. Branchenübergreifende Benchmarks rücken in den Fokus, wie dies auch LogistikPlan praktiziert: Neueste Ansätze aus der Krankenhauslogistik könnten zum Beispiel für den Textileinzelhandel interessant sein – und umgekehrt. Generell sollten Logistikunternehmen sehr schnell und kompromisslos pünktlich sein, jederzeit offen für disruptive Veränderungen – und damit ebenso hochprofessionell umgehen wie im Handel.

Das LogistikPlan Interview führte Egbert Sass. 

Bildquelle + Textautor: Egbert Sass